Offenes Gewahrsein

Die Anweisung für die Übung der stillen Meditation lautet oft, die Aufmerksamkeit auf den Atem zu lenken und sich achtsam auf die körperliche Wahrnehmung der Atembewegung zu konzentrieren.

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Bei diesem Schritt bin ich noch nicht in der Meditation, sondern folge damit zunächst einer Methode, um den Geist zu beruhigen.

Ist etwas Ruhe eingekehrt, ist der Zweck der Konzentration erfüllt und ich kann im nächsten Schritt meinen Geist öffnen.
Dieses Öffnen bedeutet, nicht mehr starr konzentriert dem Atem zu folgen, sondern allmählich die Wahrnehmung nach allen Seiten zu öffnen. Die Atembewegung bleibt mir dabei als Anker erhalten, zu dem ich meinen Geist immer wieder zurückbringen kann, wenn er ins Denken abschweift.

Es ist wie für ein Kind, das an der Hand seiner Mutter geht und diese nach einer Weile loslässt, weil es Vertrauen in seine Schritte gefunden hat. Die Hand der Mutter wird dennoch immer erreichbar bleiben, wenn die Schritte unsicher werden.

Mit dem Öffnen meines Geistes habe ich überhaupt erst die Möglichkeit zu erkennen, wenn mein Geist abschweift, denn meine bewusste Wahrnehmung nach allen Seiten erkennt neben sinnlichen Eindrücken, Körperempfindungen eben sofort auch aufkommende Gedanken, die mich ablenken wollen. Ist mein Geist nicht offen, verpasse ich das Abschweifen und finde mich wie übertölpelt plötzlich wieder in Geschichten, die mir mein Geist erzählt.

Ein offener Geist ist Gewahrsein an sich, ohne sich mit den wahrgenommenen Anteilen näher zu beschäftigen. In entspannt beobachtender innerer Haltung kommen sie einfach und vergehen spurlos, wie die Wolken am Himmel.

Offenes Gewahrsein ist entspannte und alles annehmende Gelöstheit des Geistes. Er kann alle Eindrücke ohne Widerstand wahrnehmen und im selben Augenblick mühelos wieder loslassen, wobei er sich immer weiter in seine Tiefe öffnen kann.

Offenes Gewahrsein kann zu einer Erfahrung von Freiheit werden. Es gibt nichts zu bekämpfen und es gibt nichts zu halten. Alles darf sein und alles darf auch wieder gehen. Für viele Meditierende ist diese Erfahrung oftmals das erstmalige Erlebnis inneren Friedens.

Mein Geist, der sich offen aller Wahrnehmungen in mir und um mich herum gewahr wird, erlebt Meditation. Es ist die natürlichste und entspannteste Geisteshaltung überhaupt.

Viele werden einwenden, dass dies schwierig zu erreichen sei. Und tatsächlich kann es auch schwierig werden, weil der menschliche Geist andererseits auch perfekt analytisch und abstraktiv denken kann. Durch Erziehung in unseren technisierten Gesellschaften wird er auf diese Fähigkeiten konditioniert, was ihm für die Gestaltung seiner materiellen Umgebung ungeahnte Möglichkeiten beschert.
Andererseits verkümmert dadurch die Fähigkeit des vollkommen ruhigen und tiefen Schauens nach Innen. Mit dieser Fähigkeit kann sich Meditation ereignen und eine ganz andere Form der Analyse wird damit möglich, welche die Dinge bis ins Kleinste durchdringt.